Lionel Fawcett, Gesang
  Mörike und die Musik
 

„Göttlicher Mörike“

 

Mörike und die Musik

Gesprächskonzert

 

Programm

 

Hugo Wolf                                                Auftrag

(1860-1903)                                             Verborgenheit

                                                                 

Ernst Friedrich Kauffmann                      Schön Rohtraut

(1803-1856)

 

Louis Hetsch                                            Früh (Das verlassene Mädchen)

(1806 -1872)

 

Otto Scherzer                                          Er ist’s

(1821-1886)

 

Hugo Wolf                                                         Nimmersatte Liebe

 

Ernst Friedrich Kauffmann                      Peregrina I

 

Joseph Marx                                            Peregrina V

(1882-1964)

 

Pause

 

Emil Kauffmann                                       Wo find ich Trost

(1836-1909)

 

Hugo Wolf                                                Wo find ich Trost

 

Othmar Schoeck                                               Am Walde

(1886-1957)                                             Restauration

 

Hanns Eisler                                             An den Schlaf

(1898-1962)

 

Karl Marx                                                  Jägerlied

(1897-1985)

 

Hugo Wolf                                                Auf einer Wanderung



Auftrag – eine Gedicht von Eduard Mörike

 In poetischer Epistel
Ruft ein desperater Wicht:
Lieber Vetter! Vetter Christel!
Warum schreibt Er aber nicht?

 Weiß Er doch, es lassen Herzen,
die die Liebe angeweht,
ganz und gar nicht mit sich scherzen,
und nun vollends ein Poet!

 Denn ich bin von dem Gelichter,
dem der Kopf beständig voll;
bin ich auch nur halb ein Dichter,
bin ich doch zur Hälfte toll.

 Amor hat Ihn mir verpflichtet,
seinen Lohn weiß Er voraus,
und der Mund, der Ihm berichtet,
geht dabei auch leer nicht aus.

 Pass Er denn zur guten Stunde,
wenn Sein Schatz durchs Lädchen schaut,
lock ihr jedes Wort vom Munde,
das mein Schätzchen ihr vertraut.

 Schreib Er mir dann von dem Mädchen
Ein halb Dutzend Bogen voll,
und daneben ein Traktätchen,
wie ich mich verhalten soll.

„Auftrag“ in einer Vertonung von Hugo Wolf

Eduard Mörike, der renommierteste deutsch Dichter neben Johann Wolfgang von Goethe, schrieb dieses Gedicht 1828 mir 24 Jahren. Hugo Wolf, der renommierteste Liedkomponist neben Franz Schubert, komponierte die soeben gehörte Vertonung 60 Jahre danach im Jahre 1888 mit 28 Jahren. Eine euphorischer fast trunkener Leichtsinn haben Gedicht und Lied gemeinsam – Wolf nennt sein Lied mit Untertitel ein „Couplet“; ein Strophenlied heiteren Inhalts mit witziger Pointe also. Die ersten spannenden Tage der Verliebtheit sind hier das Thema.

Es ist auch eine persönliche Euphorie, die Dichter und Komponist im diesem Schaffensmoment verbindet. Mörike wurde für einige Monaten von seinem Vikariatsdienst aus gesundheitlichen Gründen „befreit“, besuchte seinen älteren Bruder, und verliebt sich in die Josefine. Wolfs Euphorie war von anderer Natur. 1888 war das Jahr seines kompositorischen Durchbruchs. Nach Jahren der Verstocktheit  vertonte er 53 Mörike Gedichte und war sofort auf dem Höhepunkt seiner Kreativität – sein Ausruf: „Göttlicher Mörike“.

Es ist anzunehmen, dass Mörike die Musik des um zwei Generationen jüngeren Wolf nicht verstanden hätte, obwohl er für die Musik und die Malerei im Allgemein viel Verständnis hatte. Er selbst konnte wunderbar zeichnen - eine Fähigkeit weit verbreitet zu einer Zeit ohne Photoapparat, um beispielsweise eine neue Umgebung oder Wohnraum an seinen Nächsten zu vermitteln. Und über die Musik schrieb er mit 18 Jahren:

„Die Musik tut eine unbeschreibliche Wirkung auf mich – oft ist’s wie eine Krankheit, aber nur periodisch. Ich sage dir, eine bewegliche, nicht gerade traurige Musik – oft eine fröhliche, kann mir manchmal mein innerstes lösen. Da versinke ich in die wehmutigste Phantasien, wo ich die ganze Welt küssend voll Liebe umfassen möchte, wo mir das Kleinliche und Schlimme in seiner ganzen Nichtigkeit und wo mir alles in einem anderen verklärten Lichte erscheint. Wenn die Musik dann abbricht, möchte ich in meiner Empfindung von einer hohen Mauer herabstürzen, möchte ich sterben.“

Dieser Ausdruck persönlicher Gefühle eines Jugendlichen widerspiegelt doch Mörikes lebenslange tiefe Empfindung und Empfindsamkeit für die Musik – eine Empfindsamkeit, die Vertonungen seiner Gedichte sehr begrüßen ließ, und dessen starken musikalische Beziehung durch die Betitelung seiner Gedichte oft als Lieder oder Gesänge aufweist.

 „Mörike und die Musik“. Dieses Gesprächskonzert lässt sich von 2 Leitideen aufteilen:

  • Mörike der Mensch und sein persönlicher Beziehung zu Musik.
  • Mörike der Dichter und seine Wirkung auf die Musik.

 Wer war Mörike? Wie war sein Leben?

Eduard Mörike wurde vor 200 Jahren am 8.9.1804 in Ludwigburg geboren. Er war siebentes Kind unter 13 Kinder, von denen sechs im Kindesalter starben. Der Vater war Arzt und die Mutter stammte aus einer schwäbischen Pfarrersfamilie. Ein besonders enge Beziehungen hatte er zu den älteren Geschwistern Luise und Karl und zu dem jüngeren Bruder August. Als Mörike 13 Jahre alt war, starb sein Vater, und die Mutter mit den Kindern musste nach Stuttgart zu Mörikes Oheim (Onkel mütterlicherseits) übersiedeln. Hier besuchte Mörike das Gymnasium. Obwohl kein besonders guter Schüler wurde er ein Jahr später am theologischen Seminar in Urach aufgenommen. Hier schloss er 2 sehr wichtigen Freundschaften: einmal mit Wilhelm Hartlaub, dem „Urfreund“, der sich auch sehr für Musik interessierte, und mit dem Mörike ständig sein Leben lang in engeren Briefkontakt blieb. mit Wilhelm Waiblinger, der Mörike Shakespeare, Jean Paul, Novalis und vor allem Goethe nähe brachte. Alle drei wurden als Theologiestudenten im „Stift“ in Tübingen aufgenommen. Ein Jahr später begann Mörikes dichterischen Schaffen – er ist 19. Ein Jahr hiernach erlebte er seine erste gesundheitliche Krise wegen dem Tod des Bruders August. Nach dem theologischem Examen begann eine achtjährige Vikariatszeit in Oberboihingen, Möhringen, Köngen, Pflummern, Plattenhardt, Owen, Eltingen, Ochsenwang, Weilheim und Ötlingen. Während dieser Zeit starb die Schwester Luise und der Bruder Karl wurde zu einem Jahr Haft wegen revolutionärer Umtriebe verurteilt. Mörike unterbrach seine „Vikariatsknechtschaft“, wie er sie nannte, aus gesundheitlichen Gründen für über ein Jahr und vollendete sein Bildungsroman „Maler Nolten“. 1834 bekam er mit 30Jahren eine Stelle als Pfarrer in Cleversulzbach bei Heilbronn, wo er 9 Jahre blieb. Auch hier hat er Mühe mit den Amtsgeschäften - der Dichter widerstrebte dem Pfarrer! Aber er war in der Nähe von dem schwäbischen Dichter Justinus Kerner in Weinsberg und seinem Komponisten Freund Ernst Friedrich Kauffmann in Heilbronn. Zu dieser Zeit erschien die erste Ausgabe seiner Gedichte. Obwohl die Frühpensionierung im Jahre 1843 (Mörike war 39) mehr Zeit und Freiraum für seinen Schaffensdrang mit sich brachte, brachte dies trotzdem keine besondere Ruhe oder Glück in Mörikes Leben. Zunächst ist er in Wermutshausen beim Freund Hartlaub, von wo aus er nach Schwäbisch Hall übersiedelt gefolgt von einem Aufenthalt in Bad Mergentheim. Hier trifft er die Katholikin Gretchen von Speeth, die er 7 Jahre später heiratet. Hiernach übersielt er nach Stuttgart, wo er wöchentliche Literaturstunden am Katharinenstift erteilt. In der folgenden Zeit ist sein Leben relativ stabil. 2 Töchter werden geboren; ihm wird einen Ehrendoktorat von seiner Universität in Tübingen verliehen. Nach seiner Pensionierung als Lehrer am Katharinenstift und 15 Jahre nach seiner Eheschließung werden die letzten 9 Jahre seines Lebens wieder unruhig. Er verlässt seine Frau, übersiedelt nach Lorch, wieder zurück nach Stuttgart, dann nach Nürtingen mit wiederholte Aufenthalte in Bebenhausen bei Tübingen und wieder nach Stuttgart zurück. Er ist einsam. 1875 wird er wieder krank, versöhnt sich mit seiner Frau am Totenbett und stirbt am 4. Juni dieses Jahres.                

 Verborgenheit

 Lass, o Welt, o lass mich sein!
Locket nicht mit Liebesgaben,
lasst dies Herz alleine haben
seine Wonne, seine Pein!

 Was ich traure, weiß ich nicht,
es ist unbekanntes Wehe;
immerdar durch Tränen sehe
ich der Sonne liebes Licht.

 Oft bin ich mir kaum bewusst
und die helle Freude zücket
durch die Schwere, so mich drücket,
wonniglich in meiner Brust.

 Lass, o Welt, o lass mich sein!
Locket nicht mit Liebesgaben,
lasst dies Herz alleine haben
seine Wonne, seine Pein!

 „Verborgenheit“ in einer Vertonung von Hugo Wolf

Mörike hat nie ein Musikinstrument gelernt und beherrschte die Musiksprache nicht. Dies war für die damaliger Zeit ungewöhnlich anbetracht seiner gut bürgerlichen Umgebung und der Tatsache, dass seine zahlreiche Geschwister das Musizieren beherrschte. Über die Gründe wissen wir nichts. Was wir aber wissen, ist, dass Mörike von seiner Jugend an, sich sehr für die Musik interessierte und sich von ihr inspirieren ließ. Zu einer Zeit, wo das ausgeprägt Konzertleben nicht existierte, war die Hausmusik seine fast einzige Musikquelle. Er schaffte sich sogar ein Klavier an, worauf der Besuch (seine Freunde und Verwandte) musizieren konnte. Schon zu seiner Studienzeit in Tübingen gehörten Musizierende und Komponierende zu seinem Freundeskreis, und in späteren Jahren waren es die Komponisten, die ihn aufgesuchten, ihm ihre Lieder widmeten und um Texte für Opern und Kantaten baten. Für uns heute fast unbekannte Namen waren in ihrer Reihen: Gustav Pressel, Otto Scherzer, Adolf Stahr, Ignaz Lachner, Peter Joseph Lindpainter, Friedrich Silcher, Louis Hetsch und Ernst Friedrich Kauffmann.

 Mit ca.15 Gedichtsvertonungen ist unter den Komponisten aus dem Freundeskreis Ernst Friedrich Kauffmann an erster Stelle zu nennen. Er war ein Jahr älter als Mörike und ebenfalls in Ludwigsburg geboren und aufgewachsen. Vom Hause aus war er Mathematiker und wurde Lehrer an der Realschule in Ludwigsburg und später in Heilbronn. 1852 wurde er Gymnasialprofessor für Mathematik in Stuttgart. Über seine musikalische Ausbildung wissen wir nichts aber seine Lieder sind schlicht, Melodie betont, ausdrucksvoll und entsprachen genau Mörikes Musikgeschmack. Mörike schrieb ihm 1839: „Die herzliche Liebe, mit welcher du dich, wie deine Kompositionen zeigen, meiner Gedichte annahmst, hat mir höchst wohlgetan“. Hier die Vertonung vom Gedicht „Schön-Rohtraut“. Das Gedicht ist eine balladenhafte Verführungsgeschichte, die eine psychologische Andeutung auf die Liebe als Jagd inne hat - mit einer Anspielung auf eine fast dämonische Frauenerotik. Über Mörikes kompliziertes Liebesleben werde ich nachher zu sprechen kommen.

Schön-Rohtraut

 Wie heißt König Ringangs Töchterlein?
Rohtraut, Schön-Rohtraut.
Was tut sie denn den ganzen Tag,
da sie wohl nicht spinnen und nähen mag?
Tut fischen und jagen.
O dass ich doch ihr Jäger wär!
Fischen und Jagen freute mich sehr.

-          Schweig stille, mein Herze!

 
Und über eine kleine Weil,
Rohtraut, Schön-Rohtraut,
so dient der Knab auf Ringangs Schloss
in Jägertracht und hat ein Ross,
mit Rohtraut zu jagen.
O dass ich doch ein Königssohn wär!
Rohtraut, Schön-Rohtraut lieb ich so sehr.

-          Schweig stille, mein Herze!

 
Einsmals sie ruhten am Eichenbaum,
da lachte Schön-Rohtraut:
Was siehst mich an so wunniglich?
Wenn du das Herz hast, küsse mich!
Ach! erschrak der Knabe!
Doch denket er: mir ist’s vergunnt,
und küsste Schön-Rohtraut auf den Mund.

-          Schweig stille, mein Herze!

 
Darauf sie ritten schweigend heim,
Rohtaut, Schön-Rohtraut;
Es jauchst der Knab in seinem Sinn:
Und würdest du heute Kaiserin,
mich sollt’s nicht kränken:
ihr tausend Blätter im Walde wisst,
ich hab Schön-Rohtrauts Mund geküsst!

-          Schweig stille, mein Herze!

 „Schön Rohtraut“ in einer Vertonung von Ernst Friedrich Kauffmann

Unter den befreundeten Komponisten hatte Louis Hetsch eine große Bedeutung. Er war 2 Jahre jünger als Mörike und wurde in Stuttgart geboren. Er kannte Mörike aus seiner Tübinger Studienzeit, wo er Schüler von Friedrich Silcher war. 10 Jahre lang war er akademischer Musikdirektor in Heidelberg und dann Musikdirektor am Hoftheater in Mannheim, wo er schließlich dann starb. Hetsch komponierte 4 der 6 Lieder zur Musikbeilage des Mörike Romans „Maler Nolten“- Mörikes wichtigstes und umfangreichstes Prosa-Werk. Hier eine Vertonung des Gedichtes „Das verlassene Mägdlein“. Über hundert Mal wurde dieses Gedicht überhaupt vertont – diese ist die erste Vertonung.

Das verlassene Mädchen

 Früh, wann die Hähne krähn,
Eh die Sternlein verschwinden,
muss ich am Herde stehn,
muss Feuer zünden.

 Schön ist der Flammen Schein,
es springen die Funken;
ich schaue so drein,
in Leid versunken.

 Plötzlich, da kommt es mir,
treuloser Knabe,
dass ich die Nacht von dir
geträumet habe.

 Träne auf Träne dann
stürzet hernieder;
so kommt der Tag heran –
O ging er wieder!

 „Früh“ in einer Vertonung von Louis Hetsch

Noch eines der bekanntesten und auch meist vertonte Mörike-Gedichte ist das Gedicht „Er ist’s“ – ein Huldigung an den Frühling, hier in einer Vertonung von Otto Scherzer. Scherzer wurde in Ansbach geboren. Schon mit 13 Jahren wünschte er sich nichts sehnlicher, als Musiker werden zu dürfen, und mit 16 Jahren brach er seine Gymnasialbildung ab, und zog nach Stuttgart. Ohne Geld in der fremden Stadt war er sich selbst überlassen. Jedoch schon mit 18 Jahren bekam er eine Stelle in der königlichen Hofkapelle. Weitere Stationen waren München, wo er eine Professorenstelle für Orgel am Konservatorium inne hatte, und dann Tübingen, wo er als Nachfolge von Friedrich Silcher zum Universitätsmusikdirektor berufen wurde. Schon zu seiner Stuttgarter Zeit machte er die Bekanntschaft mit Ernst Friedrich Kauffmann in Heilbronn, der ihn in das Haus des schwäbischen Dichter Justinus Kerner in Weinsberg führte. Hier lernte er auch Mörike und seine Gedichte kennen, die ihm zu manchen schönen Liedäußerungen inspirierten.

Er ist’s

Frühling lässt sein blaues Band
wieder flattern durch die Lüfte;
süße, wohlbekannte Düfte
streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
wollen balde kommen.
- Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!

 „Er ist’s“ in einer Vertonung von Otto Scherzer

Wir stellten fest, dass Mörike eine ausgeprägte und starke Beziehung zur Musik hatte  – der Rezensent Bernhard Gugler bezeichnete ihn sogar als „einen der feinsten und gründlichsten Musikkenner“. In erster Linie war es Mozart, den er am meisten liebte und verehrte, und ihn 1855 zu der Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“ inspirierte. Die letzten 3 eben vorgeführten Liedbeispiele waren Lieder, die Mörike selber kannte und empfehlen mochte. Zur Zeit ihrer Entstehung war der Liedgigant Franz Schubert schon gestorben, und ebenfalls zu dieser Zeit komponierte Robert Schumann seine großen weltbewegenden Liederzyklen. Mörike scheint Schubert gar nicht verstanden zu haben, der ihm „Ärger von schrecklich moderner Musik“ bereitete. Ein weiterer Urteil lautete: „Erlkönig von Schubert: bei wahrhaften Schönheiten (Bezug auf das Gedichte?) ein grelles, den Charakter des Gedichts gewissermaßen aufhebendes Prachtirstück. Das schreien des Kindes, wie es angefasst wird, könnte Spiegel und Fenster zersprengen. Ich tadelte den Komponisten, fand aber wenig Beipflichtung“. Und obwohl Mörike ein Gewisses Interesse für Schumanns Kompositionen hatte, und  wie Goethe Mendelssohn sehr verehrte, haben diese 2 großen zeitgenössischen Komponisten wiederum kaum Interesse für die Gedichte von Mörike gezeigt. Mendelssohns „künstlerische Vollendung“ bewunderte der Dichter sehr – der Komponist hat aber kein einziges Gedicht Mörikes vertont. Schumann vertonte nur 5 Gedichte. Im Gegenzug hierzu vertonte er mindestens 36 von Heine inklusive „Dichterliebe“ und 15 von Eichendorff inklusive Liederkreis op. 39. Schumann erwog jedoch, Mörike um ein Libretto für eine geplante Oper zu bitten – er kam nicht dazu, und aus dem Plan wurde nichts! Mörikes Bezug zu der ersten Wiener Schule (Mozart, Haydn und Beethoven) war sehr intensiv. Diese Musik war ihm wichtig, innig und bewegend, und hatte ihm sehr viel Verständnis und Empfindung für erstklassige Musik vermittelt. Sein mittelmäßiger Musikgeschmack manch seinen musikalischen Zeitgenossen ist desto schwerer nachzuvollziehen. Hatten Kauffmann, Hetsch und seine anderen Musikfreunde und Bekannten Mörike negativ beeinflusst, musikalisch eingeengt, und für ihn den Weg aus seinem musikalischen Konservatismus gesperrt?

 Musik hat Mörike immer bewegt. Seine Gedichte entstammten sogar manchmal aus  Erinnerungen an Melodien - eine inhaltliche und rhythmische Suggestion der Musik also. Oft wird auch das Erklingen von Musik poetisch thematisiert, und Anspielungen auf musikalische Phänomene gemacht. Aber was waren seine Themen? Was waren die Inhalte seiner Gedichte?

Nimmersatte Liebe

So ist die Lieb! So ist die Lieb!
Mit küssen nicht zu stillen:
Wer ist ein Tor und will ein Sieb
Mit eitel Wasser füllen?
Und schöpfst du an die tausend Jahr,
und küssest ewig, ewig gar,
du tust ihr nie zu Willen.

 Die Lieb, die Lieb hat alle Stund
neu wunderlich Gelüsten;
wir bissen uns die Lippen wund,
da wir uns heute küssten.
Das Mädchen hielt aus guter Ruh,
wie’s Lämmlein unter Messer;
ihr Auge bat: nur immer zu,
je weher, desto besser! 

So ist die Lieb, und war auch so,
wie lang es Liebe gibt,
und anders war Herr Salomo,
der Weise nicht verliebt. 


„Nimmersatte Liebe“ in einer Vertonung von Hugo Wolf

 Hier ,wie beim ersten Lied, wird Liebe humorvoll, fast ironisch dargestellt! Mehr als ein Drittel von Mörikes Lyrik weisen eine Neigung zum Ironischen auf. Die reicht von liebevollen Humor bis zum bitteren Sarkasmus, zum Skurrilen und zur Unsinnspoesie. In diesem Sinne erfuhren sogar Harmonie und Idyllen nicht selten eine komische Brechung oder tragische Wendung. Andere Themen seiner Werke sind Fabelwesen, Naturphänomene, religiöse Empfindungen und immer wieder der Höhepunkt der Emotionalität - die Liebe. Stilistisch gehören seine Werke zu den Epochen des Biedermeiers, der Romantik und des Realismus. Und er bediente sich oft das poetische Mittel der romantischen Ironie, um die Beschränkung des wortwörtlichen Sinnes der Sprache zu überwinden, und um einen dichterischen Freiraum zu schaffen. 

Mit psychologischem Scharfsinn erfasste er die prägende Wirkung früher Erlebnisse. Dies gilt besonders für seine persönlichen Liebeserlebnisse, die Höhenflüge und Talfahrten mit sich brachten. Sein Liebesleben, wie sein Leben überhaupt, könnte man als unstet beschreiben. Er idyllisierte die Liebe und war ständig auf der suche nach ihr. Er liebte das Verliebtsein, und fand dies naturgemäß nur flüchtig. Auch sein Unrast, sein Suchen, hatte ihn im Alltäglichen zu über 20 verschiedene Wohnortwechsel veranlasst.

 Lied vom Winde

 Sausewind, Brausewind!
Dort und hier!
Deine Heimat sage mir!

„Kindlein, wir fahren
seit vielen Jahren
durch die weit weite Welt,
und möchten’s erfragen,
die Antwort erjagen,
bei Bergen, den Meeren,
bei des Himmels klingenden Heeren,
die wissen es nie.
Bist du klüger als sie,
magst du es sagen.
-Fort, wohlauf!
Halt uns nicht auf!
Kommen andre nach, unsre Brüder,
da frag wieder.“

 Halt an! Gemach,
eine kleine Frist!
Sagt, wo der Liebe Heimat ist,
ihr Anfang, ihr Ende?

 „Wer’s nennen könnte!
Schelmisches Kind,
Lieb ist wie Wind,
rasch und lebendig,
ruhet nie,
ewig ist sie,
aber nicht immer beständig.
-Fort! Wohlauf! Auf!
Halt uns nicht auf!
Fort über Stoppel, und Wälder, und Wiesen!
Wenn ich dein Schätzchen seh,
will ich es grüßen.
Kindlein, ade!“

 Mörikes erste Kindheitsliebe schon mit 12 Jahren war zu seiner Kusine Clärchen. Er war von ihr fasziniert, suchte ihre Nähe, und sie gesellte sich oft und gern zu ihm. Es war jedoch eine kurze Beziehung – ein Jahr später zog die Familie nach Stuttgart. Es gibt kein Hinweis, dass er Clärchen vermisste, aber vergessen hat Mörike die Faszination nicht. Sechs Jahre danach träumte der junge Student offensichtlich immer noch von seiner Kindheitsgefährtin wie diese Strophe aus dem Gedicht „Erinnerung“ dokumentiert:

 Wenig wagten wir zu reden,
denn das Herz schlug zu gewaltig,
beide merkten wir es schweigend,
und ein jedes schob im stillen
des Gesichtes glühende Röte.

 Bei Mörike spielte die Erinnerung eine entscheidend wichtige Rolle, so als ob die Wirklichkeit an Transparenz und zugleich Plastizität erst im Nacherleben gewinnen würde. Für Mörike war Liebe immer schon Erinnerung und seine tiefe Zuneigung zu Clärchen schien sich erst in der verklärten Rückschau zu entdecken, wobei die Clärchen-Verliebtheit bedeutungsvoller war als die Person. Aber die Erinnerungen entwickelten sich zu Träumen, worin die Liebe idealisiert wurde, und die Realität wenig Platz hatte. Der Traum wurde zur treibenden Kraft, die die Erinnerung ausschmückte, verzauberte und verklärte. Ein Höhepunkt dieses Prozesses verkörpern die Peregrinen Gedichte, die sich auf eine leidenschaftliche Verliebtheit Mörikes während seiner Studentenzeit beziehen, und Jahre danach in seinen Roman „Maler Nolten“ integriert wurden. Zunächst ein Beispiel – ein Gedicht des ersten Verliebtseins – ein Jahr nach dem eben gehörten Erinnerungsstrophe geschrieben:

 Peregrina I

 Der Spiegel dieser treuen, braunen Augen
ist wie von innerm Gold ein Widerschein;
tief aus dem Busen scheint er’s anzusaugen,
dort mag solch Gold in heilgem Gram gedeihn.
In diese Nacht des Blickes mich zu tauchen,
unwissend Kind, du selber lädst mich ein -
willst, ich soll kecklich mich und dich entzünden,
reichst lächelnd mir den Tod im Kelch der Sünden! 


„Peregrina I“ in einer Vertonung von Ernst Friedrich Kauffmann


Mörike verliebte sich in die Kellnerin Maria Meyer, die in der Gaststätte „Zum Holländer“ in Ludwigsburg bediente. Ihre ungewöhnliche Schönheit und ihr geheimnisvolles Wesen nahm dem Student den Atmen – Mörike war wieder fasziniert und gefesselt: Es war seine erste wirkliche Liebe und vielleicht seine einzige leidenschaftliche Liebe. Die Kellnerin war nicht nur sehr tüchtig, sondern auch gebildet. Zum Mörikes Erstaunen und Entzücken erzählte sie von Goethe und Jean Paul, deren Lektüre sie sehr schätzte. Über ein Jahr lang gab es viele Begegnungen und einen regen Briefwechsel zwischen Tübingen und Ludwigsburg – viele innige Liebesbriefe, bis die Briefe von Maria unvermittelt ausblieben. Maria war aus Ludwigsburg verschwunden, und Mörike stand vor dem Abgrund. Kurz vor Heidelberg wurde sie ohnmächtig am Straßenrand gefunden und als Landstreicherin zunächst verhaftet. Freunde einer ihr bekannten Familie aus Ludwigsburg versicherten letztendlich um sie zu kümmern, und sie wurde freigelassen. Einige Wochen später schrieb sie an Mörike, aber er ließ den Brief unbeantwortet. Er fühlte sich tief betroffen von der Treulosen, die ihn ohne ein Abschiedsgruß verlassen konnte. Mörikes „große“ Schwester, Luise, urteilte über Maria als eine zweideutige „unwürdige Person“, der unselige Gerüchte anhafteten. An sie schrieb Mörike die folgenden Zeilen:

 "Ihr Leben – so viel ist gewiss, hat aufgehört in das meinige weiter einzugreifen, (und bleibt) als ein Traum, den ich gehabt und der mir viel genützt“.

 Maria, die einstige Geliebte, wird in ein Traumgespinst verwandelt. Der Schmerz war groß, doch der Traum erwies sich als Vertreiber des Schmerzes. Enttäuschung und Verzweiflung wurden kompensiert mit dem poetischen Wort. Die Poesie öffnete immer wieder Tore, um bedrückenden Wirklichkeit zu entkommen. Peregrina, eine Allegorie der Liebe, war geboren.

 Vier Jahre nach seinem Peregrinen Erlebnis wurde Mörike fast widerwillig Vikar. In gewisser Weise wurde diese Berufung von der Familie in Mörikes Leben hinein geplant. Seine Mutter entstammte einer Pfarrersfamilie und sein akademische Werdergang war darauf eingerichtet. Nach dem Tod des Vaters und dem frühen Weggang des älteren Bruders Karl war es die Schwester Luise, die für den Zusammenhalt in der Familie sorgte. Neben der Mutter versah sie die Aufgabe, Eduard im strengen pietistischen Glauben den Weg zu weisen. In ihr fand er seinen von ihm so hoch geachteten familiären Halt. Doch war sie kein Schutzengel, der geduldig Korrekturen vorschlug. Ihre Fürsorge stellte sie als Opfer heraus und das Befolgen ihrer Ratschläge forderte sie mit dem moralischen Zeigefinger ein. Ihm wurden „heilige Versprechen“ abgerungen, die sein Seelenheil gewährleisten sollten. Ein Jahr nach Beginn Mörikes fast achtjährige Vikariatszeit stirbt seine Schwester Louise. Dies wirkte letztendlich fast wie eine Befreiung auf ihn und er unternahm alle für ihn nur erdenklichen Schritte, um von seinem geistlichen Amt loszukommen. Er hat die schlichte Angst, sein Poetenleben zu verfehlen und in die „Vikariatsknechtschaft“ unter zu gehen. Darunter litt zweifellos auch seine ohnehin labile Gesundheit, insbesondere seine seelische Verfassung. Sein schwacher,  körperlicher Zustand und seine Leiden (Rückenmarksleiden, Reizbarkeit des Nervensystems, Muskelschwäche) sind auf Mörikes Unvermögen, sein Lebenssituation zu bewältigen, zurückzuführen. 

 Schon im ersten Dienstjahr wurde er aus Krankheitsgründen für einigen Monaten von seinem Vikariatsdienst befreit, und besuchte seinen Bruder Karl, der in Scheer an der Donau wohnte, im katholischen Oberschwaben also. Der Bruder war ein trinkfester, lebenslustiger Mensch, der schon wusste, Mörike von seiner „Vikariatsknechtschaft“ zu erlösen. Mörike beschreib seine bizarren Tagesabläufe als „desperate Lustigkeit“. Aber er fühlte sich sehr wohl hier, befreit vom streng geregelten evangelischen Pfarrhausalltage, von der puritanischen Atmosphäre. Hier lernte er eine neue Einstellung zum Glauben kennen. Die Menschen waren unbefangen und gegenüber dem Sinnenhaften aufgeschlossen. Die neue Erlebnisse, Stimmungen und Empfindungen manifestierten sich in einer neuen Liebeslyrik, auch auf Grund von  Josephine, die er hier kennen lernte. Er erblickte sie zum ersten Mal beim Hochamt auf der Empore in der Kirche, wo sie den Solopart in der Messe sang. Später traf er sie, vielleicht in der Kirche oder im Städtchen? Ein schneller Wortwechsel, eine scheue Verabredung und sie fanden zueinander, und legten „die Häupter und Füße zusammen“ – ein Zitat von Thomas Mann. Das  poetische Ergebnis war ein Flut von Gedichten – das eben gehörte „Nimmersatte Liebe“ zum Beispiel oder das Verehrungsgedicht „Josephine“. Circa 30 Gedichte und der Anfang von seinem großen Roman „Maler Nolten“ sind in den leidenschaftlichen Tage und Nächte in Oberschwaben begründet. Der mahnende Zeigefinger der Schwester war vergessen und verdrängt, und Mörike suchte intensiv nach andere Beschäftigungen z. B. als Sekretär, Bibliothekar oder bei einem Verlag. Seine Versuche aus dem Vikariatsdienst aus zu brechen schlugen fehl – eine Tatsache, die er erst Jahre danach zu schätzen wusste, als der Pfarrer und der Poet sich einigermaßen versöhnten.

 Mörikes Vikariatsdienst führte den Vierundzwanzigen auf die Fildern nach Plattenhardt. Hier verliebte er sich in die Pfarrers Tochter Luise. Er erlebte  „das süßeste Glück meines Lebens, das in absehbarer Zeit zu Ehe führen sollte“. Nach sechs Monaten verlobten sie sich. Mörike war wieder verliebt und idealisierte seine Braut: „ein bildschönes, hingebendes, liebeatmendes, seelengutes Geschöpf“. In diesem euphorischen Zustand entstanden Sonette, die Luise galten und in seien Roman „Maler Nolten“ übergingen, und Briefe an Luise, die zu den „schönsten Brautbriefen der deutschen Literatur“ gehören, und die als Dokumente für die „Traumverlorenheit“ des jungen Mörikes gelten. Luise jedoch war nur bedingt fähig und willens in sein Poetenleben einzutreten. Sie liebte den angehenden Pfarrer - mit der fiktiven Welt des Dichters hatte sie ihre Probleme. Letztlich bezog sich Mörikes Glück mit Luise auf ihn selbst. Sogar die Trennung von ihr, wegen der dienstlich bedingten Versetzung nach Owen, nach Eltingen, nach Ochsenwang, wurde von einer Art selbst inszenierter Trauer begleitet. Der Schaffungsprozess benötigt Seelenkonflikte – unerfüllte Sehnsüchte und Hoffnungen sind deren Nahrung und nicht Zufriedenheit und Glück. Luise blieb zu Hause in Grötzingen mit Ihrer Mutter und Schwestern. Mörike besuchte sie sporadisch. Nach Ochsenschwang zog statt derer seine Mutter um, und führte den Haushalt. Gedanken an eine Ehe rückten immer weiter fort, zumal der Abschiedsschmerz immer wieder mit poetischen Worten sublimiert werden konnte. Nach 4 Jahren war die Liebe der beiden abgekühlt und die Verlobung wurde abgebrochen.

 Es dauerte 11 Jahre bevor Mörike sich nochmals und zum letzten Mal verliebte. Nach seiner frühzeitigen Pensionierung als Pfarrer in 1843 wohnte er zunächst in Schwäbisch Hall, kränkelte aber bald und entschied nach dem klimatisch milderen Kurort Bad Mergentheim umzuziehen. Hier wohnte er mit seiner jüngsten Schwester Klara im Hause der Familie von Speeth, deren Tochter Margarete sich sofort mit Klärchen anfreundete. Margarete war 14 Jahre jünger als Mörike, der sich damals in seinem 40. Lebensjahr befand. Die Liebe zu Margarete war zunächst eine schleichende, eine eher vorsichtige Liebe. Aber diese Liebe gekoppelt mit den gewonnen Freiraum durch die Pensionierung führten wieder zu erhöhtem Schaffen. Das Jahr nach der Begegnung mit Margarete sah weitere 30 Gedichte, das darauf folgende Jahr 15 Gedichte. Inhaltlich war diese Produktion auch sehr weitreichend: ein Nebeneinander von bodenständigen Betrachtungen und philosophischen Höhenflügen, von heiterer Ausgelassenheit und melancholischer Tiefe. Nach 7 Jahre, und auf Grund eine finanzielle Verbesserung seiner Lage, nahm Mörike Margarete zu seiner Frau. Margarete war eine Katholikin, und die Mischehe wurde von vielen seinen Freunden und Bekannten (fast alle evangelisch und viele Pfarrer) mit Missachtung betrachtet. Der glückliche Dreierbund Klara, Margarete und Eduard) lebte nun in Stuttgart – Mörike unterrichtete Literatur am Katharinenstift. In den darauf folgenden 6 Jahren wurden 2 Töchter geboren, aber von wirklichem Eheglück konnte keine Rede sein. Es gaben viele Auseinandersetzungen und Streit. Margarete hatte eine starke Persönlichkeit und letztendlich wenig Verständnis für die elegische Haltung ihres Mannes. Mit seiner weitere Pensionierung von Katharinenstift und nach 15 Jahre Ehe fing Mörike ein Wanderlaben an – seine Beziehung zu seiner Frau zerfallen. Eine Versöhnung mit Margarete fand erst 9 Jahre später statt – Mörike lag schon im Sterben.   

 Die 5 biographischen Gedichte des Peregrinen-Zyklus enden mit dem folgenden Gedicht. Einige Monaten nach Maria Meyers Ausreißen kehrt sie nach Ludwigsburg zurück. Die alte Liebe flammte kurzer Zeit wieder auf, ist jedoch vereitelt, und nimmt ihre selbstverständliches Ende:

Peregrina V

 Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden,
geht endlich arm, zerrüttet, unbeschuht;
dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht,
mit Tränen netzet sie der Füße Wunden.

 Ach, Peregrinen hab ich so gefunden!
Schön war ihr Wahnsinn, ihrer Wange Glut,
noch scherzend in der Frühlingsstürme Wut,
und wilde Kränze in das Haar gewunden.

 War’s möglich, solche Schönheit zu verlassen?
- So kehrt nur reizender das alte Glück!
O komm, in diese Arme dich zu fassen! 

Doch weh! o weh! was soll mir dieser Blick?
Sie küsst mich zwischen Lieben noch und Hassen,
sie kehrt sich ab, und kehrt mir nie zurück.

 „Peregrina V“ in einer Vertonung von Joseph Marx

 Diese Vertonung von dem Grazer Komponist gleicht einem opernhaften Monolog in post wagnerischem Stil. Joseph Marx, dessen anfängliche Lieder stark an Hugo Wolf anlehnen, und dessen Musik auch in späteren Großformen einen starken Einfluss des farbenreichen Impressionismus aufweist, etablierte sich über seine Kompositionen zu einer der führenden österreichischen Musiker Persönlichkeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er wurde Professor für Musiktheorie und Komposition an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, Leiter der Fachhochschule für Musik in Wien und Honorarprofessor für Musikwissenschaft an der Universität in Graz. Diese extrovertierte, fast bombastische, ausdrucksstarke Deutung des Mörike Gedichts – eine Gedicht mit vielen spannungsgeladenen Ausrufe und Fragen - mag diametral zu Mörikes träumerischer Verklärtheit entgegen gesetzt sein, wiedergibt jedoch den leidenschaftlichen Inhalt genau. 

(Liedvortrag)

 Pause

 Als Mörike 1875 in Stuttgart starb, staunten die Stuttgarter; sie hatten gar nicht mehr gewusst, dass er noch unter ihnen weilte. War Mörike deswegen verkannt? Neun Jahre davor sah eine 4., vermehrte Auflage seine Gedichte, und als er lebte, gab es einen großen Kreis von Lesern, die sehr wohl um seine Bedeutung wussten. Darunter waren zunächst ein begeisterter Freundes- und Bekanntenkreis - inklusive der Maler, Zeichner und Schubert-Freund Moritz von Schwind - und dann ein Reigen von Dichtern wie Paul Heyse, Theodor Storm, Emmanuel Geibel, und Gottfried Keller, die Mörike als umfangreichster und bedeutendster deutscher Dichter seit Goethe schätzten. Aber er musste sterben um große überregionale Anerkennung zu bekommen, und sie ließ fast 30 Jahre auf sich warten. Der große Durchbruch kam mit dem 100. Geburtstag im Jahre 1904.

In der Zwischenzeit war es zu einem herrlichen Zufall gekommen. Der österreichische Liedkomponist Hugo Wolf (1860-1903) nahm sich Mörike an, und vertonte 1888 53 der Mörike Gedichte. Wie es hierzu kam, dass der zwei Generationen jüngere Wolf so stark von Mörikes Werken fasziniert wurde, ist nicht unbedingt erklärbar. Man weißt jedoch, dass musikalische Strömungen und Epochen anderen künstlerischen und philosophischen Gedanken erst ca. 30 bis 40 Jahre hinterher folgen. Wir wissen auch, dass Wolf schon 10 Jahre früher einen Mörike Gedichtsband besaß. Da war Wolf erst 18 und wahrscheinlich nicht reif genug um Mörikes Ideen- und Emotionsvielfalt musikalisch umzusetzen. Wolf, dessen Hyperempfindlichkeit und strenge Selbstkritik seinen Kompositionsfluss zu stehen gebracht hatte, hatte in der Zwischenzeit mit Komponieren aufgehört, und wurde Musikkritiker. Erst die erneute Aufnahme des Mörike Gedichtbandes Anfang des Jahre 1888 verursachte eine Art Initialzündung, die eine Eruption von Liedkompositionen mit sich brachte. Wolfs Kompositionsstau wurde durch Mörikes Gedichte gebrochen. Dies beruhte auf eine Seelenverwandtschaft, die durch die ganz unterschiedliche Persönlichkeiten von Dichter und Komponisten eigentlich nicht zu verstehen ist. Eine Gemeinsamkeit hatten sie: sie waren beide sehr komplizierte Menschen. Hätten sie sich getroffen, hätte Wolf Mörikes Bescheidenheit und Kleinbürgertum eher erdrückend empfunden, und Mörike hatte Wolfs neurotische Art, seine Aufsässigkeit und seine hoch entwickelte Musiksprache überhaupt nicht verstanden. Aber sie hatte sich mit diesen Liedern gegenseitig einen großen Dienst erwiesen. Wolf etablierte sich hiermit als der wichtigste Liedkomponist neben Franz Schubert, und Mörike wurde aus der Vergessenheit gerettet. Die Lieder fallen unter vier Gattungen: Liebeslieder, Naturlieder, humorvolle Lieder und religiöse Lieder. In den Gedichten geriet Mörikes religiöser Glaube manchmal zu persönlichem Zweifel und oft zu Verzweiflung. Hier ein Beispiel:

 Wo find ich Trost?

 Eine Liebe kenn ich, die ist treu,
war getreu, solang ich sie gefunden,
hat mit tiefem Seufzer immer neu,
stets versöhnlich, sich mit mir verbunden.

 Welcher einst mit himmlischen Gedulden
bitter bittern Todestropfen trank,
hing am Kreuz und büßte mein Verschulden,
bis es in ein Meer von Gnade sank.

 Und was ist’s nun, dass ich traurig bin,
dass ich angstvoll mich am Boden winde?
Frage: Hüter, ist die Nacht bald hin?
Und: was rettet mich von Tod und Sünde?

 Arges Herze! ja gesteh es nur,
du hast wieder böse Lust empfangen;
frommer Liebe, frommer Treue Spur,
ach, das ist auf lange nun vergangen. 

Ja, das ist’s auch, dass ich traurig bin,
dass ich angstvoll mich am Boden winde!
Hüter, Hüter, ist die Nacht bald hin?
Und was rettet mich von Tod und Sünde? 

„Wo find ich Trost“ in einer Vertonung von Emil Kauffmann

 Anfangs war von Mörikes Musikerfreund Ernst Friedrich Kauffmann die Rede – wir musizierten zwei Lieder von ihm. Emil Kauffmann war sein Sohn. Zunächst war er 1. Violinist an der Stuttgarter Hofkappelle, danach Kapellmeister. Er unterrichtete an der Musikschule in Basel bevor er als Musikdirektor an die Universität nach Tübingen berufen wurde, wo er 20 Jahre lang diente.

 (Liedvortrag)

 Als Komponist begrenzte Emil Kauffmann sich auf Klavierwerke, Chöre und Lieder - Kompositionen wofür er sicherlich nicht in die Geschichte eingegangen ist. Aber es war sein Verdienst, dass Hugo Wolf außerhalb von Österreich zu seiner Lebzeit bekannt und berühmt wurde. In einer Münchener Zeitung las Kauffmann eine Kritik der Wolf’scher Mörike-Sammlung und lud Hugo Wolf nach Deutschland ein, um seine Lieder hier vorzustellen. Wolf war entzückt mit dem Sohn Mörikes Komponistenfreund Bekanntschaft zu machen, nahm die Einladung an und stellt sich in verschiedenen Städten in Süddeutschland vor, u.a. in Mannheim, wo seine einzige dann später Oper uraufgeführt wurde. Auch in Stuttgart hatte er viel Erfolg, wo heut die Internationale Hugo Wolf Akademie ihr Sitz hat. Wolf war mehrmals zu Gast in Süddeutschland, wo er viele Freunde und Unterstützung fand, zu einer Zeit als die Österreicher wenig Notiz von Wolf genommen hatten.

Wenn die eben gehörte Vertonung von „Wo find ich Trost?“ eine innige, eher bescheiden evangelische Interpretation sei, ist die nächste Vertonung von Hugo Wolf, um 20 Jahre später komponiert, eher demonstrativ katholisch mit besonderer Betonung auf die Qual des Zweifels und der Verzweiflung.      

 „Wo find ich Trost?“ in einer Vertonung von Hugo Wolf

 Außer Hugo Wolf gibt es zwei weitere Komponisten, die sich stark von Mörikes Lyrik haben inspirieren lassen. Zum ersten war es der Schweizer Komponist Othmar Schoeck (1886-1957) und zum zweiten Hugo Distler (1908-1942). Schoeck, der 26 Jahre jünger als Wolf ist, vertonte 40 Gedichte in 2 Bänden in einer Sammlung unter dem Titel „Das holde Bescheiden“. Abgesehen von dem Lied „Gebet“, woraus der Titel ein Zitat ist, hat er kein einziges anderes Gedicht aus der Wolf-Sammlung vertont. Er konnte und wollte nicht mit Wolf konkurrieren. Seine durchsichtige, fast klassische Musiksprache ist mit den üblichen Dissonanzen gespickt, die bezeichnend für die Musik des angehenden 20. Jahrhunderts sind. Jedoch ist sein Gefühl für das Elegische, das Realistische, für die kleineren Gelegenheitswerke der Mörike Lyrik (eben das Bescheidene) ist von keinem andern Komponisten so gut getroffen.

 Auch Hugo Distler fügte mit seine 36 Lieder für Chor a cappella deutlich zur Erweiterung der Mörike Rezeption hinzu. Diese 1939 entstandene Sammlung bedient sich eine ganz andere, sehr vielseitige Musiksprache. Die Formen dieser Vertonung reichen von durchkomponierten Liedern über Chorvariationen und variierten Strophenliedern bis hin zu einfachen, fast volksliedhaften Strophenliedern.

Grundsätzlich entwickelte Distler eine neue Art der Sprachbehandlung, die von Mörikes vielseitiges und unregelmäßiges Metrum in seinen Gedichte beeinflusst wurde. Dies manifestiert sich in einem rhythmischen Gefüge, das komplex, lebendig und ausdrucksstark ist. Distler lässt sich von der Vorstellung einer gesprochenen Rezitation leiten, die sehr prägnant wirkt, und von der Harmonie nur sparsam unterstrichen wird. (Hinweis auf Chorkonzerte)

 Am Walde

 Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage,
dem Kuckuck horchend, in dem Grase liegen;
er scheint das Tal gemächlich einzuwiegen
im friedevollen Gleichklang seiner Klage.

 Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage,
den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,
hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
wo ich auf eigne Weise mich behage.

 Und wenn die feinen Leute nur erst dächten,
wie schön Poeten ihre Zeit verschwenden,
sie würden mich zuletzt noch gar beneiden. 

Denn des Sonetts gedrängte Kränze flechten
sich wie von selber unter meinen Händen,
indes die Augen in der Ferne weiden.

 Restauration
(nach Durchlesung eines Manuskripts mit Gedichten)

 Das süße Zeug ohne Saft und Kraft!
Es hat mir all mein Gedärm erschlafft.
Es roch, ich will des Henkers sein,
wie lauter welke Rosen und Camilleblümlein.
Mir ward ganz übel, mauserig, dumm,
ich sah mich schnell nach was Tüchtigem um,
lief in den Garten hinterm Haus,
zog einen herzhaften Rettich aus,
fraß ihn auch auf bis auf den Schwanz,
da war ich wieder frisch und genesen ganz.

 „Am Walde“ und „Restauration“ in Vertonungen von Othmar Schoeck

Wir fassen die nächsten 2 kurzen Liedbeispiele zusammen:
Sie sind beide aus dem Liedgut des 20. Jahrhunderts, und sind auf sehr unterschiedlicher Art stellvertretend für die Vielfalt der Musikformen und das erweiterte Interesse an Mörike in diesem Jahrhundert. Das erste Lied ist von Hanns Eisler, der 1898 in Leipzig geboren wurde, und in Wien bei Schönberg und Webern die Techniken der 2. Wiener Schule studierte. Eine starke Verwandtschaft mit den Zwölfton-Kompositionen seiner Lehrer ist in dieser Mörike-Vertonung unüberhörbar. Das Gedicht, eine Huldigung an den Schlaf bestehend aus nur 4 Versen, ist einmalig in seiner Schlichtheit und seiner Tiefsinnigkeit. Die ruhige Komposition, durch eine langsame Achtelrezitation in der Singstimme und das Legato und die gedehnten Akkorde des Klavierparts, lässt das Gedicht sich ungezwungen in einem Bett der weichen Dissonanzen entfalten, und suggeriert hierdurch die Ruhe des Schlaf. Doch der fast stachelige 3taktige Nachspiel scheint sich auf den Todesstachel zu beziehen.

Die Komposition von dem um ein Jahr älteren Karl Marx wirkt dagegen fast naiv. Hier wird wohl die Einfachheit des romantischen Gedichtes bestimmend sein. Auch Marx Absichten im Sinne der Jugendbewegung der 20er Jahre immer eine einfache und durchsichtige Musiksprache in quasi neoklassischem Stil anzuwenden, findet hier Geltung. 

 An den Schlaf

 Schlaf! Süßer Schlaf! obwohl dem Tod wie du nichts gleicht,
auf diesem Lager doch willkommen heiß ich dich!
Denn ohne Leben so, wie lieblich lebt es sich!
So weit vom Sterben, ach, wie stirbt es sich so leicht!

„An den Schlaf“ in einer Vertonung von Hanns Eisler

Jägerlied

 Zierlich ist des Vogels Tritt im Schnee,
wenn er wandelt auf des Berges Höh’:
Zierlicher schreibt Liebchens liebe Hand,
schreibt ein Brieflein mir in ferne Land’.

 In die Lüfte hoch ein Reiher steigt,
dahin weder Pfeil noch Kugel fleugt:
Tausendmal so hoch und so geschwind
die Gedanken treuer Liebe sind.

 „Jägerlied“ in einer Vertonung von Karl Marx

 Kommen wir zum Schluss zu Mörike zurück. Wie kein zweiter ist Mörike mit dem Etikette des biedermeierlichen Idylls, der am Ofen sitzenden Selbstgenügsamkeit, der weltabgewandten Indolenz belegt worden. Dieser Fehlurteil wird durch die Tatsache das Mörike nie aus seiner schwäbische Umgebung hinaus kam, und durch seine introvertierte und seine kauzige Art unterstrichen. Dies kann man und muss man widerlegen. Er ist nach Goethe und neben Heine und Eichendorff der bedeutendste, umfassendste Lyriker des 19. Jahrhunderts. Die Wurzeln seine Werke liegen zunächst bei dem Mozart Zeitgenosse Jean Paul und bei den anderen 2 Giganten aus Weimar, Goethe und Schiller. Besonders der Briefwechsel zwischen diesen Beiden hat Mörike gefesselt. Für die Eröffnung des Schiller Denkmals in Stuttgart 1839 schrieb Mörike den Text zu einer feierlicher Kantate. Übrigens: Auch im nächsten Jahr, Schiller Jahr 2005, werden wir ebenfalls ein Gespächskonzert über Schiller und die Musik darbieten. Und der stilistische Bogen seine Werke reicht bis zum Ende des 19. Jahrhunderts – die Zartheit mancher Gedichte zeichnen ihn als Vorläufer des Jungendstils aus.    

Bezeichnend für die enge Beziehung Mörikes zu der Musik ist sein letztes, bedeutendes Werk: die Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“, die er 20 Jahre von seinem Lebensende schrieb. Mörike spricht von Mozart als „Sonntageskind der Musik“, und seine Musik begleitete und entzückte Mörike seit frühesten Jahren. Ausschlaggebend war der Besuch des „Don Giovanni“ im Stuttgarter Hoftheater mit 20 Jahren. Die Novelle ist keine historische; der Stoff ist erfunden. Sie schildert einen Tag im Leben des Komponisten, der mit seiner Frau Constanze auf dem Weg nach Prag befand, wo er seine Oper „Don Giovanni“ zu Uraufführung bringen wollte und schließlich in einem gräflichen Schloss seine Reise unterbricht. Mozart wird herzlichst von der heiteren, adeligen Gesellschaft aufgenommen. In einer einfältigen, kindlichen und fröhlichen Art führte er Teile seiner neuesten Oper vor und animiert die Gesellschaft sich an seiner Auslassungen teilzunehmen. Aber leise und hintergründig rauschen über dem heiteren Geschehen die Flügel des Todes; eine Andeutung auf den frühen Tod des Komponisten, 4 Jahre nach diesen fiktiven Ereignissen.

Zweifellos bezog Mörike das hier beschriebene Künstlertum auf sein Poetenleben, jedoch nicht bloß als Selbstdarstellung, sondern als Selbstdeutung. Seine Selbstverwirklichung fand er schließlich in der Poetisierung seines Lebens, und  Mozart erhob er zum Sinnbild seiner selbst. Hier betrachtete er sich im Spiegel seiner poetischen Gestaltungskraft. Er hatte seinen Zenit erreicht. Letztendlich ist es die klassische Klarheit seiner dichterischen Artistik, die hier besticht, und eine Novelle von reifer Meisterschaft und makelloser Schönheit beschert – eine Spannungsbogen von Todesnähe und Lebenslust, Melancholie und überschäumender Freude, der sowohl Mozarts als Mörikes Leben bezeichnet. 

 Auf einer Wanderung

 In ein freundliches Städtchen tret ich ein,
in den Straßen liegt roter Abendschein.
Aus einem offnen Fenster eben,
über den reichsten Blumenflor
hinweg, hört man Goldglockentöne schweben,
und eine Stimme scheint ein Nachtigallenchor,
dass die Blüten beben,
dass die Lüfte leben,
dass in höherem Rot die Rosen leuchten vor.

 Lang hielt ich staunend, lustbeklommen.
Wie ich hinaus vor’s Tor gekommen,
ich weiß es wahrlich selber nicht.
Ach hier, wie liegt die Welt so licht!
Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle,
rückwärts die Stadt in goldnem Rauch;
wie rauscht der Erlenbach, wie rauscht im Grund die Mühle!
Ich bin wie trunken, irrgeführt –
O Muse, du hast mein Herz berührt
mit einem Liebeshauch!

 „Auf Einer Wanderung“ in einer Vertonung von Hugo Wolf

 

 

 

 

 

 

 

 
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